Wird Sinn gefunden, geschenkt – oder gemacht?

21.07.2025

Der Begriff Sinn ist komplex und vielschichtig. Es gibt keine einheitliche Definition, die für alle Menschen gleichermaßen gilt. In der Sinnforschung – insbesondere nach Tatjana Schnell (2016) – wird Lebenssinn als multidimensionales Konstrukt verstanden. Es umfasst die folgenden Aspekte:

  • die subjektive Sinnerfüllung, also die Wahrnehmung des eigenen Lebens auf einem Kontinuum von sinnleer bis sinnerfüllt,
  • die psychologischen Qualitäten dieser Sinnerfüllung: Bedeutsamkeit, Kohärenz, Orientierung und Zugehörigkeit,
  • sowie die dynamische Veränderlichkeit von Sinn über die Lebensspanne hinweg.

Ergänzend fragt die Sinnforschung auch danach, woher das Sinnerleben stammt – also welche Bedeutungen und Werte Menschen ihrem Leben zuschreiben (Sinnquellen).

Drei Perspektiven auf Sinn

Was mir in meinen Coachings immer wieder auffällt – besonders im Austausch mit Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen – ist, dass unser Verständnis von Sinn eng mit unserer Sozialisation verbunden ist. Kultur, Religion, Weltbild, Gesellschaftsform sowie Familie, Freundeskreis und Vorbilder prägen maßgeblich, wie wir Sinn wahrnehmen und interpretieren. 

Wir wachsen nicht im luftleeren Raum auf, sondern in einem Umfeld kollektiver Erzählungen darüber, woher Sinn kommt – und wer ihn definieren darf. In Gesprächen zeigen sich häufig drei grundlegende Perspektiven auf Sinn. Diese Zugänge lassen sich nicht immer klar trennen – oft überlagern sie sich oder verändern sich im Lebensverlauf.

  • Sinn finden

Diese Haltung geht davon aus, dass Sinn "da draußen" existiert – etwa in einer Aufgabe, einem Beruf, einer Beziehung oder einer Lebensvision. Unsere Aufgabe ist es, diesen Sinn zu entdecken und ihm durch bewusste Handlungen näherzukommen. Die Suche ist aktiv und zielgerichtet. Diese Perspektive betont Eigenverantwortung und bewusstes Gestalten – zu finden etwa bei existenzphilosophischen Ansätzen wie bei Viktor Frankl.

  • Sinn empfangen

In vielen religiösen und spirituellen Traditionen wird Sinn als etwas verstanden, das uns zufällt oder geschenkt wird – als Teil einer göttlichen Ordnung, eines höheren Plans oder einer Bestimmung. Hier steht nicht das aktive Suchen im Vordergrund, sondern das Öffnen und Empfangen: für Eingebungen, Fügungen oder Berufungen. Für Menschen mit säkularer Weltanschauung kann diese Haltung auch als Vertrauen in das Leben oder einen größeren Zusammenhang verstanden werden.

  • Sinn geben

Ein dritter Zugang sieht Sinn nicht als vorgegeben oder entdeckt, sondern als Ergebnis eigener Bedeutungsgebung. Unsere Überzeugungen, Werte und Handlungen schaffen den Sinn, den wir im Leben erfahren. Dieser Zugang, der bei konstruktivistisch-humanistischen Konzepten zu finden ist, hebt die Freiheit hervor, den eigenen Lebensweg aktiv zu gestalten und ihm Bedeutung zu verleihen – auch wenn es keinen objektiven oder vorbestimmten Sinn gibt.

Herausforderungen und Balance

Wer sich ausschließlich treiben lässt, ohne sich aktiv mit dem eigenen Sinn auseinanderzusetzen, läuft Gefahr, die Orientierung zu verlieren und sich verloren zu fühlen. Andererseits kann der Druck oder die alleinige Verantwortung, den Sinn selbst erzeugen zu müssen – oder darauf zu warten, dass er uns findet – überfordern. Außerdem spielen gesellschaftliche Faktoren eine wichtige Rolle: Wirtschaftliche Zwänge, soziale Erwartungen oder kulturelle Normen können die individuelle Sinnsuche erschweren oder einschränken.

Einladung zur Selbstreflexion

Welcher Zugang zu Sinn ist dir vertraut – und welcher eher fremd? Stelle dir folgende Fragen:

  • Warte ich darauf, dass mich der Sinn findet – oder gehe ich aktiv auf die Suche?
  • Wo darf ich loslassen – und wo möchte ich gestalten, um mein Leben als sinnvoll zu erleben?
  • Welche Rolle spielen für mich äußere Einflüsse bei meiner Sinnwahrnehmung?

Vielleicht geht es nicht darum, die eine "richtige" Sichtweise auf Sinn zu finden. Hilfreicher kann es sein, eine Perspektive zu wählen, die uns gerade jetzt stärkt, trägt und handlungsfähig macht – und offen zu bleiben für Veränderung.